Lilly schlenderte über den Marktplatz, auf dem seit gestern allerhand Hütten standen. Auch die angrenzenden Straßen waren zwecks Budenzauber zu Fußgängerzonen deklariert worden. Zwar nur für dieses Wochenende, aber diesen Eifeler Herbstmarkt gab es schon seit Jahrzehnten – hatte sie sich von ihrer Freundin Steffi sagen lassen, und die musste es wissen. Steffis Familie hatte angeblich noch nie diesen Ort dauerhaft verlassen.
Lilly hatte, bevor sie vor knapp sieben Jahren mit ihrem Mann in diese Kleinstadt gezogen war, in Hamburg und Düsseldorf gewohnt. »Das werden jetzt sieben Jahre!«, dachte sie fast schon emotionslos. »Mit Mitte dreißig von der Großstadt in dieses Kaff.«
Jetzt konnte sie sich kaum mehr daran erinnern, was denn letztendlich den Ausschlag gegeben hatte, diese Kleinstadt in der Eifel für den Rest ihres Lebens zu wählen. Die Liebe zu Helmuth, vielleicht, aber die war ja nun auch schon ziemlich eingeschlafen. Obwohl, das musste sie einräumen, Geld macht sexy.
Mit ihren trüben Gedanken wurde sie eins mit dem miesen Wetter. Ähnlich wie die verstummten Vögel, die sich bei dem kalten Hochnebel nicht blicken ließen, träumte Lilly einen immer wiederkehrenden Tagtraum. Den der Vögel kennen wir nicht, aber ihrer handelte von dem Prinzen, der sie endlich aus dieser Misere retten würde.
Helmuth konnte es jedenfalls nicht mehr. Lilly war es mittlerweile sogar zuwider geworden, seine überdimensional großen Hemden zu bügeln, seine Socken zusammenzurollen, von denen andauernd ein Gegenstück fehlte und gegen den Geruch selbst der beste Weichspüler nicht ankam, oder – noch schlimmer – seine Unterhosen zu falten, die sie immer, warum wohl, an diverse Säcke denken ließ.
Von anderen Dingen ganz zu schweigen!
Lilly trottete weiter.
Heute zog eine einfache Kirmes mit Flohmarktcharakter und Elementen eines südländischen Marktes die Eifeler Bevölkerung an wie ein Magnet. Denen war es auch völlig egal, dass es seit Tagen leicht nieselte und somit das südländische Flair doch nicht so richtig durchkommen wollte. Die neugierigen Kunden schoben sich an den Ständen mit Paradiesäpfeln, Lammfellen, Lederwaren und Vogelhäuschen vorbei. Handschuhe für den nahenden Winter wurden genauso angeboten wie Reibekuchen und Fettgebäck.
Hatte sie das hier wirklich mal schön gefunden? War das jetzt der Ersatz für die Kö in Düsseldorf oder die Mönckebergstraße in Hamburg? Sie schüttelte gedankenverloren den Kopf. »Was für ein Scheißleben!«
Plötzlich trat eine Veränderung ein, denn Lilly sah ihn! Wie eine Traube standen die Besucher vor dem blauen Verkaufswagen. Den hatte sie noch nie vorher hier entdeckt!
Festzeltgarnituren und Stehtische standen davor, alle besetzt mit fröhlichen Menschen die edle, langstielige Wein- oder Sektgläser in den Händen hielten. Als ob sie sich alle gegenseitig kannten, unterhielten sich die Leute über Tische hinweg und hatten irrsinnig viel Spaß. Vorsichtig ging Lilly auf den blauen Anhänger zu. An der langen Seite war eine Verkaufstheke heruntergeklappt, und etwas erhöht stand der Weinhändler. Wie der Pfarrer auf der Kanzel nahm der Lümmel den Raum des Marktwagens ein und erklärte seine Weine.
Zunächst starrte Lilly auf den gewaltigen Bart. Und dann sah sie die lustigen Augen, mit denen der Weinhändler ihr herzlich zuzwinkerte. Noch ehe Lilly sich versah, hatte sie selber eins dieser edlen Sektgläser in der Hand.
»Man nennt mich Lümmel.«, stellte sich der Weinhändler breit grinsend vor. Lilly verschlug es den Atem. Unfähig zu antworten, bemerkte sie eine angenehme Wandlung in ihrem Inneren. Dazu genügte ein prickelnder Secco und die warme Stimme des Weinhändlers, die sie ihre Wehmut vergessen ließen. Als ob sie mit dem Glas eine Eintrittskarte zu einer neuen Welt in der Hand hielte, gehörte sie jetzt dazu. Irgendjemand bot ihr einen Sitzplatz an, jemand anders ließ sie von seiner Käsepatte naschen, die Seccoflasche kam wie ein UFO auf sie zu und füllte ihr Glas erneut. Das wiederholte sich einige Male, bis Lilly sich plötzlich neben dem Weinhändler in dessen Verkaufswagen wiederfand, wo sie half, die Gläsermassen zu spülen. Dabei waren die Lippenstiftreste das schlimmste. Komisch, darüber hatte sie sich noch nie Gedanken gemacht.
»Lilly, was machst Du denn hier?«, hörte sie eine bekannte Stimme, die sie in die Wirklichkeit zurückholte. Sie blickte auf und sah in Steffis fragendes Gesicht. »Weiß Helmuth von Deinem kleinen Nebenjob? Ich kann mir kaum vorstellen, dass ihm das gefallen würde!«
»Brauchst ihm ja nichts zu verraten.« Lillys Aussprache war nicht mehr hanseatisch gestelzt, sie lallte leicht.
Der Weinhändler mischte sich ein: »Die Damen kennen sich. Das ist toll, ich mag befreundete Frauen. Hier!«, und damit reichte er Steffi ein edles Glas Secco über die Theke, »Trink mal mit uns auf einen stressfreien Tag, Ärger gibt es in der Welt schon genug!«
»Nee danke, vor dem Mittagessen bestimmt nicht.« Steffis Ton war ziemlich gereizt.
»Drüben gibt’s Currywurst.« Mit einer ausladenden Geste zeigte der Weinhändler auf den Stand gegenüber.
Angewidert blickte Steffi sich um. »Bloß nicht, ich bin Veganerin!« Steffi ignorierte das Sektglas und verließ demonstrativ den Stand.
Der Weinhändler beugte sich zu Lilly und fragte leise: »Ist diese Spaßbremse etwa Deine Freundin? Und wenn ja, ich habe es ja immer schon gewusst: Woran erkennt man den Veganer? Gar nicht, denn er wird es Dir erzählen, schneller als du es selber willst!« Dabei grinste er breit. Lilly konnte es kaum fassen. Endlich ein Mann mit ihrem Humor, endlich mal wieder mit anderen anstoßen, endlich mal wieder einen kleinen Schwips, der nicht im Bett mit Helmuth endete.