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Elisabeth Escher

Das Fenster zum Himmel

Das Fenster zum Himmel

Marie Muth ist sieben Jahre alt, als ihr Leben ohne tägliche Todesangst beginnt. Qualvolle Jahre in Heim und Pflegefamilie haben bereits tiefe Narben hinterlassen. Jakob Selinger, katholischer Pfarrer und Religionslehrer des kleinen Ortes Schönboden, nimmt das »Zigeunermädchen« bei sich im Pfarrhof auf. Schon bald brodelt im Dorf die Gerüchteküche: Eine eheähnliche Beziehung zu seiner Haushälterin wird dem eigenwilligen Priester ohnehin schon lange nachgesagt. Aber stellt er nun gar seinem Mündel nach, das für alle erkennbar zu einer ausnehmend anziehenden Frau heranwächst?

Der Grat zwischen Tratsch und Verleumdung ist eng. Und wo liegt die Wahrheit? Obwohl sich Abgründe menschlichen Denkens und Handelns auftun erzählt die Geschichte auch von der Macht der Liebe, die Hoffnung und Heilung zugleich ist. Für Marie ist die Liebe die einzige Rettung.

Seiten: 316

Elisabeth Escher

ISBN:978-3-8107-0320-0

Seiten: 316

Normaler Preis €16,80 EUR
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Elisabeth Escher

Elisabeth Escher, geboren in Wels in Oberösterreich, schreibt Romane, Lyrik, Kinderliteratur und Lehrbücher. Nach Abschluss ihres Anglistik- und Romanistik-Studiums an der Universität Salzburg unterrichtete sie am Pädagogischen Institut sowie an einem Salzburger Gymnasium, wo sie bis heute tätig ist. Der literarische Durchbruch gelang ihr mit ihrem dritten Roman »Hannas schlafende Hunde«, der mit Hannelore Elsner in der Hauptrolle für das Kino verfilmt wurde. Auch ihr 2020 im Bernardus-Verlag erschienener Roman »Das Fenster zum Himmel« soll bald verfilmt werden. Escher ist Mitglied der Salzburger Autorengruppe und wurde 2006 mit dem Christine-Busta-Lyrikpreis ausgezeichnet.

Leseprobe

»Gott ist nicht lieb.«
Diese vier Wörter fallen aus Maries Mund, unerwartet wie erste schwere Regentropfen aus einem gerade noch heiteren Himmel. Sie fallen in die Mit- te eines jener besonderen Nachmittage, an denen die Kanzlei des Pfarrers Jakob Selinger von einer seltsamen Stimmung erfüllt ist, einer Ruhe, die Anna Forsthuber unlängst gar als »heilig« bezeichnet hat. »Heute hört man bei dir ja die Flöhe husten«, hat sie Jakob dabei ins Ohr gehaucht, um die himmlische Ruhe nicht zu stören. »Wahrscheinlich hörst du hier auch das Flüstern Gottes, der dir die nächste Predigt eingibt«, hat sie mit einem angedeuteten Augenzwinkern noch nachgelegt. Marie hat trotz des Flüstertons alles genau verstanden. Und sie hat auch bemerkt, wie sich die Hände der »Tante« und die des »Onkels« wie zufällig getroffen haben.
Nun vernimmt Jakob Selinger nur das Kratzen der Wachskreidestifte auf dem rauen Zeichenpapier und den Widerhall von Maries Worten, die sich nicht wie Tropfen auf heißem Stein in Luft aufgelöst haben, sondern im Raum hängen geblieben sind und nun von Augenblick zu Augenblick schwerer auf die Stille drücken.
Der Pfarrer bleibt auf seinem Schreibtischsessel sitzen, unbeweglich, nur sein Blick gleitet vom Notizblock vor ihm auf das so gar nicht ins Bild passende auf dem Parkettboden hockende Mädchen, das scheinbar ungerührt von der eigenen Aussage die letzten weißen Lücken des Zeichenpapiers sorgfältig mit fettem Nacht- blau schließt. Ihre Haut ist viel dunkler als die der Menschen hier, von sattem Goldbraun ist sie, schwarz- glänzend fallen die dichten Haare über die schmalen Schultern, und die Augen sind schwarz wie die Anzugjacke des Mannes, der ihr gegenübersitzt und den sie seit ihrem Einzug im Pfarrhof »Onkel« nennt.

Jakob Selingers Blick wandert zurück auf den halb beschriebenen Zettel, auf dem er die Gedanken für die nächste Predigt notiert hat, und auf dem er nun nach den richtigen Worten zu suchen scheint. Nicht nach Worten für die Predigt, sondern nach Worten, die er Maries Feststellung entgegensetzen kann.
Auch Marie bewegt sich nicht von der Stelle, sie ist daran gewöhnt, dass der Onkel oft lange braucht, bis er etwas sagt, dann nämlich, wenn seine Gedanken einen langen Weg zurücklegen müssen, bis sie zu Worten werden. So hat er ihr das schon einmal erklärt. Diesmal muss der Weg besonders lang sein, denn nur die buschigen, beinahe pfeilgeraden Augenbrauen haben sich gehoben, und Marie stellt wieder einmal fest, dass die Brauen des Onkels eigentlich nur ein einziger Bogen sind, der haarlose Raum zwischen ihnen über der Nase ist kaum sichtbar.
Schließlich bewegt er die Hand, um seine Brille abzunehmen, die er nur zum Lesen und Schreiben aufsetzt. Bevor er den Blick dem Mädchen zuwendet, reibt er sich die Augen, so lange und heftig, als wäre ihm gerade eine ganze Staubwolke hinein geflogen, als müsste er sich erst davon befreien, um wieder sehen zu können.
»Ach Mariechen«, sagt er endlich, und nun kommen Marie diese Augen fast durchsichtig vor, wahrscheinlich weil er sie so lang gerieben und so auch die Farbe herausgestrichen hat. »Du hast wohl so viele schlimme Dinge erlebt, dass es dir schwerfallen muss, zu glauben, dass der, der doch alles weiß, entscheidet und lenkt, ein Lieber sein soll, wenn er doch so viel Böses zulässt? Dass er ein sorgender Vater sein soll, der seine Kin- der beschützt und stets das Beste für sie will und das ja auch tun könnte, wo er doch allmächtig ist? Was soll ich dir sagen? Für uns Menschen ist das gar nicht einfach zu begreifen. Auch für mich nicht.«
Wieder scheinen sich die Gedanken des Onkels zu- rückgezogen und auf Wanderschaft gemacht zu haben, denn sein Blick ist auf den Notizblock zurückgekehrt.
»Dann weißt du also auch nicht, ob er überhaupt lieb ist und sagst das nur, weil du es als Pfarrer so sa- gen musst?«, fragt Marie und zieht die Beine soweit an sich heran, dass die Knie das Kinn berühren. Mit den Armen umspannt sie die dünnen Unterschenkel, so dass sie gut sitzt und nicht umfallen kann. Wie ein verschnürtes Paket hockt sie da.
»Wissen. Was heißt schon ›wissen‹? Eine Geschichte kann ich dir erzählen, wenn du willst. Dann verstehst du vielleicht, warum ich den Menschen lieber von einem ›lieben‹ als von einem ›bösen‹ Gott erzähle. Also, hör zu: Der Michael, der jeden Sonntag ministriert und mit dem du so gerne in der Kirche nach der Messe Ver- stecken spielst, ich weiß schon, dass ihr immer oben auf der Empore bei der Orgel seid und auch in den Beichtstühlen. Also, der Michael: Der Bub hat wie du keine richtige Mutter, nun, du hast ja eine echte Mutter, nur ist die halt an einem anderen Ort und nicht bei dir, aber der Michael hat gar keine leibliche Mutter mehr, weil die nämlich bei seiner Geburt gestorben ist. Sie hat hochschwanger einen fürchterlichen Unfall gehabt. Der Huberbauer hat sie beim Traktorfahren einfach übersehen und beim Rückwärtsfahren ganz schlimm erwischt. Die ist gar nicht mehr zu Bewusstsein gekommen, aber den Michael, den haben sie retten können, durch einen Kaiserschnitt. Als ich den Buben ein paar Wochen danach getauft habe, das ist jetzt schon mehr als zehn Jahre her, da hat seine Tante, die ihn bei sich aufgenommen hat, trotz aller Trauer um ihre Schwester vor Glück geweint und gesagt: ›Dass es den Michael gibt, das ist ein Wunder. Ich danke dem lieben Gott dafür.‹ Aber der Vater vom Michael, der hat Gott nie verzeihen können. Er war so voller Bitterkeit und was er gesagt hat, werde ich auch mein Leben lang nie vergessen: ›Wenn ich Gott treffe, werd ich ihn erschlagen.‹ Ja, Kind, diese zwei Seiten gibt es. Man muss sich entscheiden. Ich hab mich für das Wunder entschieden.«
Marie sitzt noch immer zusammengekauert auf dem Holzboden. Sie hat dem Onkel, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen oder den Blick von ihm abzuwenden, zugehört. Nun schweigen beide.