»Radautobahnen« – dieser wunderbar absurde Begriff war den Unterschriften-Sammlern am Tivoli, damals im Herbst 2019, noch unbekannt. Mit großem Eifer waren sie bei der Sache. Vor allem die resolute Franziska Vallet-Byaruhanga, Krankenpflegerin von Beruf, schien geradezu gierig, mit allen Mitmenschen ins Gespräch zu kommen. »Wir wollen sichere Radwege und Kreuzungen … umbauen, ausbauen … getrennte Busspuren, abgetrennte Radwege. Keine schmalen Streifen zwischen parkenden Autos rechts, eng vorbeirasenden Autos links und davor manchmal noch Karossen, die mal eben abgestellt worden sind …« Schließlich das Joker-Argument: »Würden Sie Ihr Kind auf die jetzigen Pisten des Grauens lassen?«
»Naja, nein«, hörte sie dann meist, und es gab die nächste Unterschrift.
Häufig hörte sie jedoch Sätze wie: »… aber die Radfahrer müssen sich auch mal an die Verkehrsregeln halten.« Franziska kannte das: Schnell das Thema umdeuten. So machten es viele, immer wieder. Dann musste man immer eine Tirade von schrecklichen Erlebnissen über sich ergehen lassen, mal von sogenannten Radrüpeln ohne Licht, mal von angeblich unverschämten Manövern auf Fußwegen, von Rotlichtabbiegern, von Radfahrern, die überhaupt immer und überall machten, was sie wollen, die nicht klingelten und man sich dann so erschreckte, wenn sie plötzlich ganz eng neben einem auftauchten …
Klar, das gab es. Die einen sagten: vereinzelt, die anderen sagten: dauernd. Solches Rüpeltum war auch nicht weiter zu verteidigen. Aber machte es Sinn, das aufzurechnen? Natürlich nicht.
Franziska war sich zudem sicher, dass insbesondere der Anklagepunkt mit dem Nichtklingeln andere Gründe haben konnte: Der Überholte, gern im Rentneralter, hatte halt vergessen, sein Hörgerät einzuschalten. Sie selbst, die jeden Tag mit dem Pedelec nach Stolberg zur Arbeit fuhr, hatte sich schon mehrfach die Finger wund gebimmelt und vor ihr: Keine Reaktion.
Aber das sagte sie jetzt natürlich nicht. Ihr Langmut hatte Franziska während solcher Empörungsmonologe jedes Mal über alle Hürden hinweggeholfen. Immer hatte sie einfach freundlich gelächelt: »Einverstanden, nicht jeder Radfahrer hält sich immer eisern an alle Regeln. Das findet niemand gut, das kann nerven. Aber sagen Sie das auch mal den beiden Radfahrerinnen, die dieses Jahr in Aachen getötet wurden. Die würden ihre Wünsche sicher liebend gern befolgen.«
Das saß immer.
Gerade hatte sie wieder jemanden ins Gespräch verwickelt. Und das hieß, er oder sie würde nicht entkommen, nicht bei Franziska, ohne den Stift zu zücken, selbst wenn es sich um einen SUV-Fahrer mit bescheidenem Hirnhintergrund handelte. Hier am Stadion aber stieß selbst Franziska manchmal an ihre Grenzen: »Ich hatte auch schon einige, wie soll ich sagen, interessante Begegnungen«, erzählte sie in einer kleinen Pause, »einer hat gesagt ›Ich bin kein Fahrradfahrer, ich bin Alkoholiker.‹«
»Hmmm«, sagte Filip, der vierte im Bunde, und bemühte sich ernst zu bleiben.
»Eine andere Frau hat mich auch ganz geschickt abgewimmelt.« Franziska machte eine Kunstpause, bis Esther endlich fragte: »Wie denn?«
»Die sagte ›Geht nicht, Kind. Ich kann nicht schreiben.‹ Und ich muss ehrlich sagen, ich hab es ihr geglaubt.«
Die Menschen strömten derweil weiter in den Tivoli, einige tausend, so wie sie es immer tun, alle vierzehn Tage. Es war ja auch sehr wichtig, ob es dem einstmals dreifachen FC-Bayern-Serienbezwinger (2004, 2006, 2007), der damit zum Rekordpokalsiegerrekordrauswerfer geworden war, gelingen würde, auch den heutigen Gegner SV Rödinghausen zu schlagen? Zuletzt war das gegen andere Liga-Giganten wie Bergisch Gladbach 09 oder den SC Wiedenbrück fast gelungen.
»Kein leichter Termin hier«, sagte Damian nach einer guten halben Stunde. Kaum zwei Dutzend Unterschriften waren es bislang bei allen vier zusammen. Bei vergleichbarem Andrang kam man woanders, bei Konzerten oder Bürgerfesten, zu zweit locker auf die doppelte oder dreifache Zahl. Vielleicht weil beim Fußball nicht so viel radaffines Publikum auftaucht?
Mit dem Rad fahren ohnehin nur wenige zu einem Fußballstadion. Das hat mehrere Gründe. Da ist zunächst das rituelle Vorglühen. Das findet seit Erfindung von Verbrennungsmotor und Ball auf der Fahrt zum Stadion im Automobil oder im Bus statt. Das Leeren erster Bierportionen funktioniert auf dem Rad deutlich schlechter. Von solchen Vorbedingungen wussten auch die Radenthusiasten. Und sie sahen sich am Stadion um. Hier vorne an der Krefelder Straße gab es ganze sechs Radbügel. Sechs – bei einem Stadion für fast 33.000 Menschen. »Ist das nicht herrlich lächerlich?«, sagte der Mathematik-Lehrer Filip Heinen. Außerdem, meinte er, wenn man ein solches Monsterparkhaus in die Wiesen setze wie hier, das über 300 Tage im Jahr fast ungenutzt herumsteht, »fahren viele sicher auch aus Mitleid mit dem Auto«.
Tatsächlich gab es hinten am Parkhaus auch noch eine Menge Abstellplätze für Räder, wenn auch eher von der Sorte Speichenbrecher. Die sind halt billiger, und Sparen muss man einem klammen Club wie der Alemannia nach zwei Insolvenzen zugestehen, entschuldigte Damian seinen Herzensverein. Kurz vor 14 Uhr, also fast zur Anstoßzeit, kam Franziska schließlich von dort zurück.