Noch heute suche ich vergeblich eine so köstlich schmeckende Buttermilch in den Geschäften, wie ich sie aus damaliger Zeit noch in Erinnerung habe. Meine Mutter machte auch den Käse selbst und wir stampften Sauerkraut in einem großen Fass.
Viele diese Erinnerungen sind sicher auf die Erzählungen meiner Eltern, meiner Schwester und meiner beiden Brüder zurück zu führen, denn ich war mit 3 oder 4 Jahren eigentlich zu klein, um mich an alles noch so genau erinnern zu können. Schnell vermischt sich Erzähltes mit Erlebtem und macht es schwierig, eigene Erinnerungen als solche zu erkennen.
Als ich vor vier Jahren zu meiner Geburtsstätte in das heutige Litauen reiste, war ich allerdings erstaunt, wie viele Einzelheiten ich doch noch in Erinnerung hatte. Ich war jedoch überrascht, wie klein und bescheiden das Anwesen war, welches in meiner Erinnerung die Größe eines Rittergutes hatte.
Der intensive Kontakt zur Natur, den ich in meiner Kindheit auf unserem Hof hatte, prägte mich für mein Leben. So antwortete ich auf Fragen nach meinem Berufswunsch in meiner Kindheit stets mit „Gärtner“. Noch heute bedeuten mir unser Garten und mein Gewächshaus sehr viel! Jedoch entwickelte sich mein Leben anders als gedacht. Gärtner wurde ich nicht…
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Mein Vater wurde aufgrund des Krieges bald zur Armee eingezogen. Da er Lehrer war, schickte man ihn zu den Junkers-Werken in Dessau, einer damals sehr bekannten Flugzeugfabrik. Als technischer Unteroffizier unterrichtete er dort während seines Militärdienstes das Fach Mathematik für jugendliche Auszubildende der Fliegerschule Junkers. Viele Piloten kamen von der Front nach Dessau, um bei Junkers ihre beschädigten Flugzeuge reparieren zu lassen. Sie berichteten meinem Vater schon sehr früh – unter vorgehaltener Hand – dass die Situation an der Ostfront aussichtslos sei und der Tag bevorstehe, an dem die Rote Armee zum Gegenschlag ausholen und über Ostpreußen nach Deutschland einmarschieren würde.
Erst einige Zeit danach setzte die große „Völkerwanderung“ ein, bei der Menschen ihr nötigstes Hab und Gut einpackten und in großen Trecks gen Westen zogen. Viele erreichten ihr Ziel nicht.
Daher fuhren wir schon 1943 unbehelligt von russischen Fliegern mit einem Soldaten-Sonderzug, der von der Front kam, nach Dessau.
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Auf Schokolade konnten wir in diesem Moment natürlich nicht mehr hoffen.
Überall fanden wir herumliegende Waffen. Für uns Kinder bedeutete dies eine große Verlockung, sie zu sammeln und an abgelegener Stelle abzufeuern. Ich selbst war dazu noch zu klein, bewunderte jedoch meinen 10 Jahre älteren Bruder und seine Freunde, die bereits gut mit den Waffen umgehen konnten. Allerdings geschah eines Tages ein Unglück.
Mein Bruder Heinz-Horst und sein Freund „Mampe“ erzeugten eines Tages mit den Zündern für Sprengsätze, die sie gefunden hatten, kleine Explosionen. Sie verbanden die Zünder dazu mithilfe zweier Kabel mit einer Taschenlampenbatterie.
„Mampe“ jedoch erwischte wohl ein falsches Kabel, und sämtliche Zünder in seiner Hosentasche explodierten. Die große Explosion zerstörte sein Bein – ich weiß heute nicht mehr, wie wir es schafften, den Schwerverletzten zu einem Arzt zu bringen. Das Leben von „Mampe“ konnte glücklicherweise gerettet werden – sein Bein jedoch nicht.
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Erst in den letzten Kriegstagen war mein Vater in amerikanische Gefangenschaft geraten. Da er als technischer Offizier politisch nicht belastet war, kam er bereits nach kurzer Zeit aus der Gefangenschaft nach Hause. Damit endete auch unsere Freiheit, die wir unter der weniger strengen Obhut unserer geliebten Mutter bis zu diesem Zeitpunkt genossen hatten. Unser heimgekehrter Vater führte nun wieder sein strenges, väterliches Regiment.
Wir verließen das fast restlos zerstörte Dessau schon im Jahr 1947 – wie durch ein Wunder waren im Bereich der Junkers-Werke bei den Bombenangriffen nur wenige Häuser zerstört worden.