London, 2020, in meiner alten Bleibe.
Zwei schallgedämpfte Schüsse stellen die Ordnung vor meiner Wohnungstür wieder her. Ich lasse das Licht noch eine weitere halbe Stunde ausgeschaltet, um sicherzugehen, dass die Mörder weg sind. Im Dunkeln packe ich langsam meine wenigen Habseligkeiten zusammen (ein Kissen, Kleidung, eine kunstvoll gefertigte Holzschatulle aus Mooreiche), räume das Essen vom Tisch (Brot und Wein) und lege den Schlüssel gut sichtbar auf den Tisch. Das sollte als Kündigung ausreichen. Als ich vorsichtig den Kopf durch den Türspalt stecke, ist die dunkle Straße vor meinem Unterschlupf wie leergefegt. Einzig der schwache Schein einer Straßenlaterne erinnert an das Verbrechen, das vor wenigen Minuten hier in London, Westminster, nur Zentimeter von mir entfernt stattgefunden hat. Gleichgültig steige ich über den Leichnam meines – jetzt ehemaligen – Kollegen Ahmid hinweg, dessen rostfarbenes Blut sich tropfenweise mit dem Regen vermischt und in einer Ablaufrinne versickert. Ein Hauch von Schwefel und Verzweiflung liegt in der Luft. Die Tür klickt hinter mir ins Schloss. Für mich ist es mal wieder Zeit, mir eine neue Unterkunft zu suchen. Zu überleben. Meine Lebensaufgabe zu erfüllen, selbst, wenn sie mir von Tag zu Tag sinnloser vorkommt.
Ich ziehe die Kapuze meiner schwarzen Jacke tiefer ins Gesicht und werfe einen flüchtigen Blick auf mein Smartphone (neuestes Samsung-Modell in mattschwarz, WhatsApp vom Boss zur Kommunikation auf allen Geräten seiner Handlanger vorinstalliert, was für ein Schwach- sinn). Und zehn unbeantwortete Anrufe von Ahmid, der nun mit offenen Augen vor meiner Tür liegt. Hat sich beim letzten Job ein paar Kilogramm Koks eingesteckt, diese »gewinnbringend angelegt« und ist aufgeflogen. Unser Boss versteht bei sowas keinen Spaß.
Um 1:30 Uhr erreiche ich die Victoria Station und steige die Treppen zur U-Bahn hinab. Stechender Uringeruch weht mir um die Nase, miese Graffiti von selbsternannten
Virtuosen begleiten mich in die modernen Katakomben Englands. Ich spüre die zerknitterte Oyster-Card in meiner Hosentasche, die morgen leider abläuft.
An den Gleisen lungern um diese Zeit nur noch ein paar Hungerkünstler herum, Zigaretten in ihren eingerissenen Mündern, abgegriffene Gitarren umgeschnallt, rot unterlaufene Augen von zu wenig Schlaf und zu viel Alkohol. Einer wischt sich die laufende Nase an seinem zerschlissenen blauen Pullover ab. Sie zählen die Cents in ihren Hüten. Vielleicht reicht es für einen Kanten Brot oder eine Flasche Schnaps, wenn sie zusammenlegen.
Kurz ziehe ich in Erwägung, die Jungs um eine Zigarette zu bitten, doch verwerfe den Gedanken wieder.
Die Wahl ihrer Zigarettenmarke ist ironisch. Gauloises,
Liberté toujours.
In ausreichender Distanz warte ich auf die einfahrende
Bahn.