Der Geruch von Moos und aufgewühlter Erde lag in der Luft. Der Waldboden war taugetränkt, und das Licht der aufgehenden Sonne brach sich in tausenden und abertausenden feinen Tropfen, die alles ringsum benetzten.
Elviras Flügel trugen sie lautlos durch den anbrechenden Morgen, während ihre scharfen Augen jede Bewegung im Umkreis unzähliger Meilen wahrnahmen. So lange schon hatte sie auf diesen Moment gewartet, und nun, endlich, schien er zum Greifen nah.
Elvira überquerte den Schattenwald, schwebte über die sieben Inseln und erreichte schließlich nach Stunden, derer sie müde geworden war, zu zählen, nahe den Klippen von Tenebris, jene steinerne Höhle, die ihr endlich das offenbaren würde, wonach ihr erkaltetes Herz sich einzig sehnte.
Mit einem katzenähnlichen Sprung landete sie lautlos neben der Höhle, richtete sich auf und strich mit beiden Händen ihr schwarzes Gewand glatt. Auch ihre Haare, beinahe knielang und von betörendem Glanz, waren schwarz, ebenso wie ihre Flügel, ihre Augen und – wie einige scharfe Zungen zu sagen beliebten – ihre Seele.
Erwartungsvoll ließ sie ihre Zunge über die von Durst rauen Lippen gleiten. Jede Faser ihres Körpers war zum Zerbersten gespannt, als sie endlich mit einer einzigen, lautlosen Bewegung geduckt in das Innere der Höhle glitt, um Runa Gideon das zu stehlen, womit sie selbst nicht gesegnet worden war.
Runa Gideon … beim Gedanken an sie und daran, dass diese Aussätzige den größten Schatz besaß, den Elvira sich je zu wünschen gewagt hatte, musste sie einen wütenden Aufschrei unterdrücken. Sie ballte die Hände zu Fäusten, so fest, dass sich ihre spitzen Fingernägel in die weiche Haut des Handballens bohrten, und einen Schmerz in ihr auf keimen ließen, der jedoch nicht annähernd jenen Schmerz erreichte, den ihr Innerstes verspürte.
Runa hatte einst wahre Größe besessen. Besonders war sie gewesen, mächtig, klug und wunderschön. Eine der Stärksten unter den Starken. Doch seither waren viele Jahre ins Land gegangen. Runa hatte dem Rudel Untreue angetan und war verbannt worden, lange bevor sie sich auf diese jämmerliche, fünfsinnige Kreatur eingelassen und einen Mischling geboren hatte. Einen Bastard. Aber, und das war es, was Elvira an jenem Morgen durch Nebel und Kälte, über Wälder und Seen, hin zu diesem kargen Ort getrieben hatte, einen Sohn. Sie hatte einen Sohn geboren.
Runa, bleich, noch sichtlich entkräftet von der Geburt und durchweg recht hager, aber dennoch schön wie eh und je, richtete sich auf, als der Schatten Elviras sich jäh über sie legte. Ihr braunes Haar fiel ihr in samtigen Wellen über ihre Schulter und über das kleine Bündel in ihrem Arm, das sie nun instinktiv fester an sich drückte. Ihr müdes, von Sommersprossen übersätes Gesicht und ihre klaren, grünen Augen waren gezeichnet von Misstrauen, als Elvira ohne ein Wort des Grußes nähertrat, sich über sie beugte und mit langen Fingern Runas Haare beiseiteschob, um das Bündel ansehen zu können.
»Was willst du nach all den Jahren?«, fragte Runa mit fester Stimme und wandte sich leicht von Elvira ab, um sich zwischen sie und das Kind zu schieben.
»Oh, Runa! Dumme, kleine, ängstliche Runa.« Elvira lachte glockenhell auf und tätschelte ihr mit einer herablassenden Geste den Kopf. Ihre Stimme war süßlich und zischend, und hin und wieder betonte sie ein Wort auf so merkwürdige Art und Weise, als trüge es eine ganz besondere Bedeutung für die gesamte Aussage. »Sei nicht immer so argwöhnisch, du dummes Mädchen. Ich komme bloß, um dir beizustehen in
dieser schweren Zeit. So etwas tun Freunde!«
»Wir sind keine Freunde, Elvira.«
Runa erhob sich und begann, mit dem inzwischen leise wimmernden Neugeborenen durch die Höhle zu wandern, auf und ab, und ab und auf, während sie ihm, in einem behutsam sanften Rhythmus, fortwährend den Rücken tätschelte. Dabei gab sie sich sichtlich Mühe, nicht allzu nahe an Elvira heranzutreten, die sich inzwischen mit vor der Brust verschränkten Armen und einem aufgesetzten Lächeln im Gesicht in der Höhle umsah.
»Geräumig ist es hier nun nicht gerade«, schnurrte Elvira. »Er wird sich nie richtig entfalten können. Nie lernen. Nie stark werden. Armer Junge.«
Runa, die den Worten Elviras nicht zu lauschen schien, sondern eher abwesend wirkte, kam am Eingang der Höhle zum Stehen, blickte in die Ferne, und für den Bruchteil eines Augenblicks schien es, als wolle sie die Flügel ausbreiten und fliehen. Doch dann seufzte sie und ließ sich im Schneidersitz nieder, um ihr Kind an die Brust zu legen. War es Resignation, die sie dazu bewegt hatte? Wusste sie, dass sie es in ihrem Zustand niemals schaffen würde, Elvira zu entkommen? Elvira war es gleich; das einzig Wichtige war, dass das Kind, der Junge, ihr Junge, endlich zum Greifen nahe war.
Als sie sich hinzuschlich und sich mit gebleckten Zähnen und begierigen Blicken nur wenige Zentimeter neben die stillende Mutter kauerte, spannte Runa ihren Kiefernknochen sichtlich an.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte sie tonlos.
»Oh, das war leicht. Viele der Neuen haben nützliche Gaben.« Elvira zog erneut am Tuch, in das das Neugeborene eingewickelt war, und entblößte dessen mit rotem Flaum besetzten Kopf. »Ein Rothaariger. Wie ungewöhnlich. Wie ist sein Name?«