Der Vormittag des 17. April 1928 unterschied sich nicht wesentlich von jedem anderen Morgen des bereits verstrichenen Jahres. Ich war pünktlich um sechs Uhr aufgestanden, hatte ein einfaches Frühstück eingenommen und mich angekleidet. Gegen sieben Uhr verließ ich mein Haus in Bochum Herne und begab mich auf meinen allmorgendlichen 15-minütigen Fußmarsch. Dieser führte mich zu den Büroräumen der Stahlbaufirma, für die ich damals tätig war. Und so saß ich kurz vor halb acht in meinem Büro in unserer Bochumer Niederlassung. Ich begann sogleich mit der Arbeit und war damit beschäftigt Materiallisten durchzuarbeiten. Die Unterlagen betrafen die Errichtung einer Überdachung für die Wartehalle eines kleineren Nebenbahnhofes in Essen. Ich stellte die Bestellung der Winkelprofile und I-Träger zusammen, die wir noch im Laufe des heutigen Tages von der VESTAG (Vereinigte Stahlwerke AG) bestellen wollten. Meine Laune war nicht besonders gut. Die nach Angabe unseres Statikers notwenigen Profile waren deutlich schwerer als ich bei der Angebotserstellung abgeschätzt hatte. In Anbetracht des jetzigen hohen Stahlpreises würde das unseren Gewinn bei diesem Bauvorhaben deutlich schmälern. Bevor ich die Listen fertig hatte, musste ich noch einmal mit dem Statiker reden. Er würde prüfen müssen, ob er die Profile nicht doch kleiner dimensionieren konnte. Dies war so nicht rentabel.
Als ich mit den vorläufigen Listen fast fertig war, klopfte es an der Tür meines Büros. Herr Braun, der
Vorsteher der Konstruktion, grüßte und trat ein. Er war ein pflichtbewusster, gedrungener Mann, der damals im Krieg seine linke Hand verloren hatte. Er trug den weißen Kittel, der Technischen Zeichnern als Berufskleidung dient – den linken Ärmel hatte er von seiner Frau kürzen und zunähen lassen. Er hob die rechte Hand, in der sich ein Brief befand.
»Ein Einschreiben«, erklärte er. Er legte den Brief auf meinen Tisch. »Ich wollte Sie eigentlich holen, aber der Bote hatte es verflucht eilig, also habe ich den Empfang für Sie quittiert. Ich fürchte, ich habe wohl Ihre Unterschrift gefälscht. Nur damit Sie Bescheid wissen.«
»Na, dafür wird man Sie wohl nicht gleich vor ein Standgericht stellen«, scherzte ich.
»Wenn ich mich nicht irre, haben Sie für das Abhalten eines Standgerichts nicht ganz den Dienstgrad, Herr Leutnant«, erwiderte er schmunzelnd.
Als Braun gegangen war, öffnete ich den Brief vorsichtig mit dem Brieföffner in Form eines Miniatur Bajonetts, welchen ein Freund mir einst geschenkt hatte. Erst begann ich damit den Brief zu überfliegen. Nachdem ich ihn das erste Mal flüchtig durchgesehen hatte, las ich ihn noch zwei weitere Male mit größerer Sorgfalt, da ich seine Wichtigkeit erkannt hatte. Im Anschluss daran ging ich als Erstes zum Vitrinenschrank in meinem Büro und schenkte mir einen Schnaps ein. Eigentlich war es nicht meine Art, schon vor dem Mittagessen zu trinken – meine Frau sah dies nicht gerne – angesichts der deprimierenden Nachricht, die der Brief enthielt, wich ich nun jedoch von dieser sonst eisern eingehaltenen Regel ab.
Der Brief stammte von einem Notar mit Geschäftssitz in Hamburg. Der Notar hieß Müller und hatte seine Kanzlei in der Nähe des Doms. Als ich den Schriftkopf mit der Hamburger Adresse sah, musste ich sofort an meinen alten Freund und Kameraden Ernst Sauer denken. Wusste ich doch, dass er sich dort in der Stadt aufhielt, und sonst hatte ich keine Bekanntschaften oder Verwandte in Hamburg.
Ich hatte mich nicht geirrt, der Brief betraf Sauer. Und der Inhalt war eine mehr als nur betrübliche Nachricht. Die Nachricht war so überraschend wie niederschmetternd. Der Notar erklärte bündig und sachlich, dass er beauftragt worden war, den Nachlass des Herrn Sauer abzuwickeln. Ernst Sauer Leutnant a.D. sei 1927 in englischer Haft verstorben. Er hatte ein Schreiben hinterlassen, das zwar kein ordentliches Testament war, aber doch Regelungen zu seinem Nachlass enthielt. Als einziger Erbe und die Person, die über seinen Tod informiert werden sollte, wurde ich genannt. Aus diesem Grund bat mich der Notar, möglichst im Mai seine Kanzlei in Hamburg aufzusuchen. Sollte der Mai nicht machbar sein, so wäre erst wieder ein Termin im August möglich, da ihn in der Zwischenzeit Angelegenheiten außerhalb Hamburgs in Beschlag nehmen würden.
Die Nachricht machte mich sehr betroffen. Sauer und ich waren im Großen Krieg Kameraden gewesen. Wir hatten in China, in Tsingtau, gemeinsam gegen die Japaner und Engländer gekämpft. Ich war damals in Kriegsgefangenschaft gegangen, während Sauer eine abenteuerliche und verwegene Flucht gelang. Und obwohl Sauer und ich damals viel Zeit miteinander verbracht hatten und Kameraden und ja, auch Freunde waren, war ich doch erstaunt, dass er mich als seinen alleinigen Erben eingesetzt hatte.
Nach kurzer Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass ich es Sauer schuldig war, nach Hamburg zu reisen. Dies war letztendlich der Augenblick, in dem ich begann – wenn ich es damals auch noch nicht realisierte – Nachforschungen zu Sauers tragischem Ende anzustellen.
Nun war Einiges zu tun. Zuerst musste ich Rücksprache mit dem Vorsteher des Büros halten, damit ich einige Tage der Arbeit fernbleiben konnte. Ich erklärte ihm, dass ich persönliche Angelegenheiten zu regeln hätte.